DOKUNST
DOKUNST 

Eiszeit

(2015)

 

Inzwischen war es schwer geworden, sich im Life-Style-Dschungel für eine Lebensweise zu entscheiden, die noch in irgendeiner Form sinnvoll war. Auch der Begriff Sinn schien mehr und mehr einer Abgeklärtheit zu weichen, die Materie dem Geist gegenüber vorzog. Der jugendliche Körper war Chiffre für Unversehrtheit, selbst für eine innere Reinheit. Die Oberfläche trat den Feldzug gegen tiefere Schichten und nicht ganz so „reine“ Lebenswirklichkeiten an. Dieser Art Sezierblick mangelte es nicht an Verstandesklarheit, jedoch an Herzenswärme. Wer wollte überhaupt noch Kinder zur Welt bringen?

Damit einher ging die Unmöglichkeit, die gesellschaftliche Wirklichkeit auf diesem Planeten noch unter einen Hut zu bringen mit einer bestimmten und gewählten Richtung der Ideale und Ziele. Es gab Kämpfe für und gegen etwas zugleich, teils sogar innerhalb ein und derselben Partei bzw. Person. Es gab niemanden mehr, der „alles“ wusste, oder kontrollierte. Ein jeder kontrollierte einen anderen und jeder hatte seinen blinden Fleck, über den er gar nichts wusste. Die Systeme griffen zwar ineinander und hatten ihre Mächtigen an der Spitze der Gesellschaftsformen, doch hatte sich längst alles verselbstständigt und trieb unaufhaltsam dem totalen Kontrollverlust zu.

So konnte man in seiner kleinen individuellen Existenz stets nur Teilaspekte aufgreifen und versuchen, für diese Teilaspekte Besserung zu erwirken. Es schien hoffnungslos zu sein.

 

Der Schnee knirscht unter seinen Füßen. Gestern war die Faszination über die Nordlichter groß. Jetzt ist es einfach nur bitterkalt und er möchte ankommen. Nichts als ankommen. Zu Hause. Da ist es warm. Das Stimmengewirr der Schulkinder in der Pause war früher schön wie Musik. Jetzt wird er das treibende Echo in der Einöde nicht mehr los. Dass seine kleine Tochter auf dem See neben ihm Schlittschuh läuft, wirkt absurd und er fühlt sich beinah persönlich davon angegriffen in seiner Trostlosigkeit. „Papa, erzähl mir vom Sommerland!“ ruft sie herüber. Langsam dämmert es in ihm, bis er sich erinnert und es spürt: die dichte laue Luft, die sich absetzt auf der Haut wie Streicheln. Der leuchtend blaue Himmel so nah, als könnte man seine Wölkchen anfassen und sie würden angenehm kühlen. Das flirrende Sonnenlicht in den Baumwipfeln gepaart mit einer leichten Brise, die durch sie streift, dass sie zu flüstern scheinen. Das Zirpen der Grillen im hohen Gras, das niemals enden soll. Und irgendwo ein plätscherndes Gewässer, mit dem man verschmelzen möchte. Bis man hineinspringt und in den Schwimmbewegungen alles, alles loslässt. Alles, alles loslässt und eintaucht und atmet und…

„Papa! Aufwachen!... Pa-pa!“ Erschrocken setzt er sich im Bett auf, schaut auf den Wecker. Dann zum Fenster. Eisblumen. Sie ist längst weggetapst. Sie zieht Spuren in den Schnee. Wie sie es ihr ganzes Leben lang tun wird. Und genau darauf kommt es doch an: ob Sand oder Schnee.

 

Susan war in jenem Alter, in dem das Spiel seine Magie schon eingebüßt hat, wenn aus selbstvergessener Lebendigkeit ein bewusster Akt geworden ist, sich etwas einzubilden. Es gibt immer noch Neigungen für bestimmte Tiere z.B. oder allmählich schälen sich Hobbys etwa sportlicher Natur heraus. Aber diese Einheit im Spiel wird von nun an gesucht. Immer wieder und immer wieder anders, bis daraus vor allem die Suche nach der Einheit mit anderen Menschen wird. Oder nur einem anderen Menschen. Es macht sich eine unbeschriebene Leere und eine unbenennbare Sehnsucht breit.

Still innerlich und in der Stille da draußen ließ sie sich bei geschlossenen Augen Schneeflöckchen auf ihre Zunge rieseln. Dann formte sie Schneebälle, die sie entlang eines Astes aufreihte, bis ihre Finger so gefroren waren, dass es fast Hitze war, was sie spürte. Als Ed sie hereinrief, da das Essen schon auf dem Herd stand, setzte sie sich in die Küche hinter der verglasten Veranda auf einen der drei Korbsessel, der bei dieser Bewegung wohlig ächzte. Sie besah sich ihre roten Finger, die anfingen zu pieksen beim Erwärmen.

 

„Papa? Wann kommt Mama wieder?“ Einer der Kartoffelklöße glitt vom Löffel und platschte in den Suppenteller. „Au! Mist!“ Er hielt seine Hände, die von der heißen Suppe besprenkelt worden waren, unter den Wasserhahn. „Susan, Schatz…“ die Worte blieben in der Luft hängen, trieben wie eine Blase über der schweren Atmosphäre von Verlust und Traurigkeit. Er stellte ihnen die Teller ungeschickt auf den nackten Holztisch, setzte sich in den Sessel neben sie und stützte seinen Kopf in die Hand. Er musste etwas sagen. Susan würde ihre Suppe nicht anrühren, bis er etwas gesagt haben würde. „Du wirst sie wiedersehen. Das verspreche ich dir.“ „Aber wann?“ „Ich glaube, Mama muss erst mal gesund werden. Danach siehst du sie wieder.“ Sie nahm ihren Löffel, zögerte aber noch. Hoffnungslos sagte Ed: „Bitte! Iss jetzt. Ich kann dir nicht mehr sagen.“

 

Suzanne hatte sich ein kleines helles Zimmer an einem entlegenen stillen See angemietet. An jenem Morgen, als alles noch schlief und der Mond seine bizarren Gebilde an Wände und Fußboden zauberte, war ihr, als trüge die Lautlosigkeit ihre noch schlafwarmen Füße wie schwebend, während sie ihr Kleid nahm, um sich im Flur anzuziehen. Zum ersten Mal nach langen Monaten konnte sie wieder frei atmen. Die Aussicht einer zwanglos gestaltbaren Zukunft machte sich bemerkbar und schon jetzt entspannte sich die Muskulatur um ihren Hals und ihre Schultern. „Ich muss hier raus“ schrieb sie ohne Hast mit Bleistift auf einen Notizzettel und legte ihn bedächtig auf den Küchentisch. Ihr war deutlich bewusst, was sie gerade tat; dass sie in eine noch unbekannte Welt abtauchen würde auf Kosten einer treuen Gewohnheit. Doch nicht auf Kosten ihrer Familie. Da sie von ihr zehrten, würde auch in ihnen eine Veränderung von statten gehen. Dies konnte schließlich nur gut werden.

 

Glühwürmchen schwirren in der Wärme

Wie lebende Sterne

Es ist als zeigten sie die Ewigkeit

Und doch ist´s nur wenig Zeit

Die ihnen bleibt

 

Tag um Tag

Jahr um Jahr

 

Das Käuzchen ruft in der Nacht

Mein banges Herz erwacht

 

Tag um Tag

Will mein Herz verströmen

Sachte leicht

In die Unendlichkeit

Mir fehlt nicht die Zeit

 

Aber wie?!

Tag um Tag

Immer!

Möchte ich aufgehen wie reiner Schimmer.

 

So träumte Suzanne. Wie lang schon hatte sie es sich nicht mehr erlaubt, eins zu werden mit ihren Gefühlen? Der alte Zug ächzte zwischen den Waggons, von deren Dächern lange Eiszapfen hingen. Allmählich dämmerte es und sie fühlte sich trotz ihrer Einsamkeit geborgen in diesem tiefen klaren Blau des Kosmos. Wer weiß schon, was wir sind und wohin unser Geist geht? Leere und Fülle. Beides durchdrang sie bis in die Haarspitzen. Ihre Gänsehaut stammte nicht von der Kälte. Als die Sonne aufging und ihr erstes zartes Licht auf die taufrostigen Gräser warf, ersehnte sie den See, als sei dieser der Rest ihrer Seele.

 

Sie hatte von dem Bahnhof, dessen Uhr stehengeblieben war, noch einen sandigen Waldweg bis zu dem gelben Haus zu gehen. Hier und da huschte eine Amsel durchs Unterholz, ein Rotkehlchen legte den Kopf schräg und sah ihr direkt in die Augen.

Die Hollywoodschaukel im Hinterhof versprach gemütliche Nostalgie. Davor standen ein rundes Mosaiktischchen und zwei Stühle für kurzes Verweilen. Im Sommer würde man ausgiebig in den weichen Polsterauflagen fröhliche sinnende Zeit verbringen können. Sie ging um das Haus zur Vordertür und klingelte. Da ihre Vermieter offenbar nicht wieder zurück waren, schloss sie die Haustür mit ihrem Schlüssel auf. Im mit weichem Teppich ausgelegten Flur duftete es nach einfacher Sauberkeit. Ein Hauch Atem lag in der Luft. Atem von vielen Jahren ruhigem Leben. Eine Zeichnung von Fliegenpilzen und Marienkäfern hing an der Wand. Daneben ein langer Spiegel. Sie nahm ihre Mütze ab, fuhr sich durch ihr dunkelbraunes langes Haar und betrachtete kurz ihr müdes, doch noch immer nicht gealtertes Gesicht.

War zu Hause noch jemandem aufgefallen, wie müde sie das gemeinsame Leben dort machte? Gesetzt hatten sich Emotionen und Gedanken. Susans Anblick vermochte es nach wie vor, ihr Herz eine Note leichter zu machen. Ed war auch kein schlechter Mann oder so etwas. Das war es nicht, was ihr dauerhaft gefehlt hatte. Er küsste hin und wieder auch ihr Haar, sagte ihr, sie sei schön… Doch wenn sie mit irgendetwas eins wurde, so nicht mit ihm. Auf einem Spaziergang mit der Weite der Landschaft, auch mit dem grundlegenden Glück ihrer Tochter, oder bei Musik, mit ihren Phantasien; doch nicht mehr, wenn sie miteinander schliefen. Ein Teil von ihr blieb unberührt. Und sehnte sich. Nach was? Dies herauszufinden, dazu war sie hierhin gekommen.

 

Durch das Treppenhaus hinauf zu ihrem Zimmer klopfte ihr Herz. Es gab dort niemanden. Und doch gab es dort etwas für sie. Liebe. Sie spürte eine Präsenz bis in ihre Fingerspitzen. Die Tür war unverschlossen. Es breitete sich vor ihr ein Raum aus, der bis auf ein großes Bett in der Raummitte, ein Kommödchen und große Grünpflanzen vor der Fensterfront, die sich entlang des gesamten Raumes zog, nichts beherbergte. So führte der Blick durch eine Weite hinaus zu dem türkisfarbenen See, den feiner heller Sand, Schilf und Kiefern säumten. Eine Weile stand sie am Fenster und betrachtete das ruhige Wasser, das dort draußen wartete, bis es warm genug sein würde, um es in

Besitz zu nehmen. Nichts schien darauf hinzudeuten, dass außer ihr selbst je ein Mensch mit diesem kühlen lindernden Nass in Berührung gekommen war. Nur ein leichter Windhauch ließ von Zeit zu Zeit ein paar Kiefernnadeln auf den Strand rieseln und benetzte die Wasseroberfläche mit weißen Fäden, die sacht und geräuschlos hinüberglitten. Einen solchen Frieden hatte Suzanne lange vermisst. Ed hatte sich um vieles und auch um sie gut gekümmert. Auch zu ihrer Tochter war er stets freundlich. Doch etwas Größeres schlummerte und wartete darauf, geweckt zu werden. Sie fühlte sich wie ein Kelch, der darauf wartet, gefüllt zu werden. Sie legte sich schließlich nackt auf das Bett. Und wartete.

 

Drei Monate später

 

Inzwischen war der Frühling gekommen. Und während Susan ihr winterliches Schneckenhaus verließ, laut und ausgelassen von der materiellen Welt in den bunten Strudel von Lebendigkeit gelockt wurde, versuchte Ed im Garten Fuß zu fassen, indem er die getrockneten Zweige und Blätter des letzten Jahres von den Pflanzen schnitt. Bisweilen trieb das warme Sonnenlicht eine dichte Atmosphäre in die Umgebung, so dass er wähnte, seine Jungenzeit sei nur durch einen Wimpernschlag wieder zu erreichen. Zugleich und heftiger trieb es ihn hinaus in die seine bodenständige Körperlichkeit vernichtende Vorstellung der Milliarden von Galaxien. Das machte seine Existenz durchsichtig und zerbrechlich wie Glas. Glas aus dem Sand vergangener Tage. Seine Tochter würde ihm in wenigen Jahren schlicht und aufrecht und wahr sagen: „Ja und dann verschwinden wir. Aber nicht jetzt. Also was willst du?“ „Ich will aber nicht, dass wir einfach so uns auflösen! Ich kann diesen Gedanken kaum ertragen, dass es so wäre.“ Das würde er erwidern, im Voraus wissend, was sie in die Luft schreiben würde: „Wir wissen es nicht.“

Melancholie zog allabendlich wie schwerer Wein durch sein Herz. Seit Suzanne fort war lösten sich Tropfen der Dunkelheit und umschatteten ihn so manifest, dass seine Tochter ihn manches Mal aus sicherer Entfernung versonnen betrachtete, als sei er tatsächlich schon nicht mehr ganz von dieser Welt. Und dabei verdurstete er geradezu nach barer Realität!

 

Als es schließlich Mai wurde, der Duft frischer Erdbeeren seine graue Seele etwas zu sättigen vermochte und die unsäglichen Kirchenglocken sechs Uhr schlugen, fasste er sich. Er kramte den alten Füller aus dem Schreibtisch und suchte sich möglichst weißes Papier. Mit blauer Tinte verewigte er folgende Worte an seine Frau:

 

Meine liebe, geliebte Suzanne! Wie hätte ich wissen können, was Du für mich bist? Mir ist nun so kalt. Es ist kalt. Du, wer sonst?, wirst wissen, was ich mit Es meine. Und darum auch liebe ich Dich. Es ist nicht allein die Unendlichkeit. Es ist auch nicht wärmer in der Endlichkeit. Es ist das Bewusstsein um das Bewusstsein. Zusammenhänge scheinen sich aufzulösen. Selbstverständlich gibt es Zusammenhänge in der Historie, in der Evolution, in jedem verdammten Identitätskomplex… Doch was zählt als einziges ist der pure Augenblick. Der aber stellt im Grunde NICHTS dar. Hier wirkt nur Liebe. Reine nackte und auch körperliche Liebe. Verstehe doch!: Ich will Dich nicht nur in Deiner Wärme Deines lieblichen, -und auch sexy!- Leibes! Und nicht nur als Halt in einem wenig haltbaren Leben. Nicht mal in platonischer Weise nur -mag das auch edel wirken. Ha! Ich will Dich als lebenden Spiegel meiner Existenz. Ich bin nicht da ohne Dich. Ich brauche das Glitzern der Tiefe Deiner Seele durch Deine Augen, den warmen hölzernen Duft Deiner Haare, die Empfindlichkeit Deiner Haut, schließlich den Klang Deiner Stimme, der in mir nachhallt. Ich will Dich geradezu trinken, will ertrinken in Deinem ganzen Wesen. Scheine wieder in mir!

 

An jenem Wintertag war aus der namenlosen Präsenz von allumfassender Liebe eine gottähnliche Feuernatur geworden, die Suzannes Körper zum Glühen gebracht hatte. Nach einem rauschhaften Schlaf, in dem ihr Geist Urtänzen um knisternde Feuer erlegen gewesen war, war sie auf leisen Füßen in der Morgendämmerung einem Instinkt gefolgt und zum Seeufer geschlichen. Zwar war ohnehin außer ihr niemand zugegen, doch schien sie von etwas Lebenden umgeben gewesen zu sein, das sie nur führte, wenn es ungestört wirken konnte. Immer noch wie im Bann hatte sie ihr Gesicht mit etwas Wasser benetzt. Dann war sie geführt wieder zu Bett gegangen. Nach einer weiteren Stunde erwacht, hatte sie sich plötzlich ausgeruht und frisch gefühlt wie neu geboren. Ihr war ein Traum in Erinnerung, in dem sie aus einem Jungbrunnen getrunken hatte. Mehr war ihr nicht eingefallen.

 

Nun, an einem ersten lauen Frühlingsabend saß sie beim Schein einer Öllampe am Strand und lauschte. In beinah vollkommener Lautlosigkeit sah sie das leuchtende Gesicht eines ernsten und doch in selbstgewisser Weise frohen Ed. Während die Dunkelheit im Hintergrund eine unheimliche Sogwirkung ausübte, löste ein schneeweißes lichthelles kleines Häuschen auf Eds ausgestreckter darbietender Hand jeden Zweifel auf.

 

Zwei Tage danach

 

Die gleichmäßige Geschwindigkeit des Zuges trägt sie beruhigend und mit glimmender Vorfreude dem Schatz zu. Ja! Bald kommt der Sommer! Schon ist alles grün. Bald saftig wie zum Anbeißen. Gleich-nur noch eine halbe Stunde-dann ist sie da. Zu Hause. Dann wird sie die leuchtenden Augen ihrer Tochter sehen, ihre noch blonden Haare werden umherwirbeln, sie werden hell lachen, sie wird ihre zarte Stirn lang küssen und weinen. Und Ed. Er wird mit seinen starken ruhigen Armen hinter Susan stehen und seine Augen werden ernst auf ihr ruhen. Auf seiner ankommenden, wiederkehrenden, vertrauten und doch verwandelten,…ungewissen Frau. Und dann? Ja, was? Werden sie glücklich sein und werden es immer und immer wieder werden.

 

 

 

 

 

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