DOKUNST
DOKUNST 

Rain

 

(2015)

Here comes the rain again. Falling on my head like a memory, falling on my head like a new emotion…“

Der nur ein wenig von der schwülwarmen Sommerluft abkühlende Regen in dieser drückenden Atmosphäre von Unbestimmten, einer Ahnung von Unheil, schien sich heimlich in seine einsame Anonymität des Großraumbüros zu schmiegen, ihm über die Wange zu streicheln. Bestandskundenbetreuung, immerhin nicht zwangsläufig etwas verkaufen müssen. Telefonieren mit unbekannten Menschen, denen er ebenso unbekannt war. Man konnte quasi sehen, welche Körperhaltung jemand gerade hatte, einen Gesichtsausdruck ausmachen, ein Schmunzeln vielleicht, doch letztlich gehörte alles, was man hätte sehen können, in das Land der Phantasie. Wie jemand roch, die Farben von Augen und Haut, Kleidung, klar, Kleidung. Das alles war unsichtbar. Die Größe und Einrichtung des Raumes konnte man in etwa erahnen, je nach Echo, Trittgeräuschen usw. Marek war nun also ein Telefonist. Kein Telefontechniker, doch jemand, der nach ganz bestimmten Techniken seine Gesprächspartner zufrieden stellen musste. Wenn er das nicht in der vorgegebenen Zeit von wenigen Minuten schaffte, war er raus. Kein Geld mehr und offensichtlich kein guter Techniker also.

In der Pause sah er oft aus dem Fenster. Gespräche mit Kollegen fruchteten nicht. Jeder hatte seine eigene Geschichte, die ihn hierhin gebracht hatte. Und diese Tür war hier zu. So trennt man Berufsleben von Privatleben. So einfach ist das. Er sah aus dem Fenster. Der Apfel, in den er gerade hineinbiss, schmeckte frappierend. Ein wenig so wie die kullernden Regentropfen, die über seine Hand liefen, als er das Fenster geöffnet hatte. Schön. „Moment, Sie dürfen die Fenster hier drin nicht öffnen. Wenn Sie frische Luft brauchen, müssen Sie vor die Tür gehen.“ Er hatte nicht gesagt „raus gehen“. Als sei frische Luft eine Rarität und er habe sich sicherheitshalber für Türen entschieden. Marek war sich nicht so sicher. Er hielt sich sozusagen zwischen Tür und Angel auf. Das war nicht selten so bei ihm. Er setzte sich wieder auf seinen ergonomisch geformten Stuhl, stützte die Ellenbogen auf den PC-Tisch und aß den Apfel.

So weit waren der Herr und er selbst nicht voneinander entfernt. Jener hielt sich gern in geschlossenen Räumen auf, er selbst war zwischen drinnen und draußen wie gefangen. Drinnen: ja, das konnte viel bedeuten. Zu viel für ihn. Es konnte heißen, tief in der eigenen Seele herumzustochern, oder schlimmer noch, nichts vorzufinden und im eigenen Körper auszuharren. Ohne viel Hoffnung auf die Erfüllung der längst begrabenen und vergessenen Träume. Träume von einem Leben, das weit und grenzenlos quasi die Urgründe der Farben, der Düfte, der Klänge, der Geschmäcker, und der Berührungen letztlich, umfassen, in all den Aspekten der lebendigen Wellen spürbar werden ließe. Ja, die Sehnsucht, immerhin, verließ ihn nicht.

Der Herr hatte sozusagen abgedankt mit allem, was Verschmelzung hätte sein können und sich reduziert auf das ihm Menschenmögliche. Niemand weiß von einem solchen Menschen meist mehr, als seine zu Tage liegenden Lebensstrukturen es offenbaren. Und es scheint beinah, als sei er seine Lebensstrukturen in Person. Doch seine geheimen Wünsche, die ausgeträumten Ideale womöglich, kennt niemand. Nicht einmal seine eigene Frau. Das ängstliche Herz ist still geworden.

Doch nicht so unser Marek. Auch er war still im Grunde und auch äußerlich. Doch nichts wollte er so mit jeder Faser erfassen, als den Menschen selbst. Er hatte eine heimliche Obsession entwickelt, über Telefonate zu sehen. „Wollen sie nicht erst mal aufstehen, bevor sie mit mir reden?“ Das hatte er nicht gesagt. Solche Unverschämtheiten konnte er sich nicht nur nicht leisten, darüber hinaus saß sein Respektgefühl einfach zu tief, um so indiskret zu sein. Allerdings hatte er sich ein anderes Mal erlaubt, zu fragen: „Welche Farbe hat ihr Teppichboden?“ „Wie bitte? Also…das ist ja…“ Offensichtlich stiftete er Verwirrung. Das war ganz und gar nicht seine Absicht. Er wollte doch nur Nähe herstellen? War es das? Es war ein etwas seidenes Terrain, darum bemerkte er manchmal nur still, wie schön zum Beispiel das Lächeln einer alten Dame war.

Am Abend in seinem Zuhause, oder vielmehr in seiner heimatlosen Behausung, denn er hatte weder Frau noch Kind, schritt er die Räume der imaginären Schöpfungen seiner Telefonate ab, tappte verstohlen durch ihre Seelen. Das war weich und grenzenlos und lautlos. Obgleich manchmal auch Worte über die Lippen eines Gesichtes kamen, doch wie eine Tröstung. Beruhigend war das. Selbst wenn sie von Tagen des Krieges erzählten, von Schrecken, schrecklichen Verletzungen, Angst, Verlust, betäubendem Lärm, einer Gewalt, die alles bricht, das Rückgrat, Vorstellungen von Moral oder dem Jenseits… Es verband sie trotzdem. Und das war auch logisch. Wenn doch unsere Körper aus Zellen bestehen, die von Wasser und Energie durchströmt werden, unsere Lebenswirklichkeiten Abbilder unseres Gehirns sind, alles, was erdenkbar und erfühl bar ist, einzig durch ein etwas gebündelt wird, das wir Ich nennen, dann war es ganz und gar nicht erheblich, ob jemand anwesend oder entfernt war.

Damals. Wie hatte Marek diesen Begriff in sein Erbgut eingeschlossen! Damals war ein Begriff, den man auf persönliche Lebensgeschichten anwendete. Damals war ein schöner Traum geworden. Gibt es das noch?: Die befußte alte Badewanne im Garten unter dem blühenden Kirschbaum vor dem kleinen Häuschen auf dem Land in Polen? Und es gab und gibt sie!: Die heilen Orte dieser Welt. Doch die Furcht ließ ihn nicht mehr los. Die Weitsicht in eine katastrophale Zukunft packte ihn und trieb ihr distanziertes, gefühlloses Spiel mit ihm.

Wäre denn überhaupt ein einzelner Mensch in der Lage, ihn daraus über seine Lebensspanne hinüberzuretten?

Ja, die Eine. Stets war es immer „die Eine“ gewesen, die ihn zu retten schien. Wenn der beklommene Stein auf seiner Brust saß, war sie es, die ihm das Atmen wieder ermöglichte; wenn Hoffnung nur an Pandora denken ließ, zeigte sie ihm wieder so etwas, was man Lebensfreude nannte. Und nun ging es um noch viel mehr! Sie war das Abbild seines Glaubens an das, was man früher - damals - „Gott“ genannt hatte. Er war nicht im engeren Sinn das, was man gläubig nennt. Es war schlichtweg so, dass er mehr wollte, wo andere sich mit Halbgarem und beschränkten seelischen Möglichkeiten zufrieden gaben. Manchmal wachte er in seinem schmalen Bett auf und fühlte nichts als seine körperliche Sterblichkeit. Er unternahm nun denn den Versuch, diese im Verwelken begriffene Knospe zum Erblühen zu bringen. Er war süchtig nach Ihr, dieser einen Frau, die bislang lediglich in seinem Kopf herumgeisterte. Doch ohne sie war er kaum in der Lage, überhaupt nur einen seiner Arbeitstage zu meistern. Irgendwo in einem dieser imaginären Räume war sie und wartete auf ihn, so wie er auf sie wartete. Und eines Tages, am Ende der Welt, würden sie zusammenkommen. Das war die einzige Sicherheit, die er noch kannte.

Als er eines morgens das Schlafzimmer betrat, schwirrte etwas Dunkles in rasender Angst dumpf gegen das geschlossene der beiden Fenster, sank flatternd um sein Leben zu Boden und nachdem es erneut gegen die Scheibe geprallt war, blieb es liegen. Ein kleiner Vogel kroch mit zuckenden Flügelchen umher, Marek näherte sich aufgeregt doch langsam mit seiner Vorsicht diesem wilden Tier, um es aufzuheben und zum offenen Fenster zu bringen. Es zitterte unter der Wunde kläglich und starrte ihn an. Es wusste nichts von diesem Menschen, rein gar nichts! Und Marek erkannte im Augenblick einer Sekunde nur das pure Aug-in-Aug zweier Leben an einer Schwelle zu Unbekanntem. Er legte es auf ein weiches Tuch vor sich auf den Sessel und setzte sich in den anderen. So verharrte er einige längere Momente, vielleicht waren es Stunden, bis er sich ein Herz fassen musste. Im Vorgarten unter einer Kastanie buddelte er ein tiefes Loch, legte den schon starren Körper in dem Tuch hinein und pflanzte auch eine Lilie darein. So würde er im nächsten Frühling sich erinnern.

„Ach, wegen eines Vogels…!“ und andere belächelnde Kommentare seiner Kollegen musste er schlucken. Benahm er sich denn wie ein Kind? Eine tief verbundene Zärtlichkeit wohnte in ihm. Das machte sein Wesen so unerklärlich und für die meisten befremdlich. Bis Marek eines Tages diese Stimme hörte.

„Guten Tag. Ich rufe an, weil mein Gerät nicht funktioniert.“ Eine tiefwarme Unterströmung unter einer klaren Helligkeit, eine Präzision bei einer Weichheit wie Bachwasser, und in der Kehle wie ein samtiger Stoff zurückgehaltener Emotionen, eine Stimme wie eine schwarze Lilie. „Wie bitte? Entschuldigen sie, ich habe sie nicht ganz verstanden. Was sagten sie?“ „Mein Gerät funktioniert nicht.“ „Das ist alles?“ „Bitte? Können sie mir helfen? Oder… bin ich falsch verbunden?“ „Äh, nein nein! Es ist nur: Der Vogel, den ich gestern begraben habe, vielleicht… .“ „Oh, das tut mir leid. Also…“ Sie räusperte sich und zögerte, bevor sie weitersprach. „Ja, ich komme nicht ins Menü. Und… Was war es denn für ein Vogel?“ „Ein schwarzer kleiner, sehr aufgeregter.“ „Mh, eine Schwalbe vielleicht?“ „Mh, vielleicht eine Schwalbe. Wissen sie…?“ Sie unterbrach ihn. Ein wenig aufgeregt? „…ich besitze eine Voliere. Ich habe auch Schwalben. Das heißt: kranke Schwalben. Und auch Meisen, Spatzen, Rotkehlchen… Ich lasse sie bei mir gesund werden, um sie dann eines Tages wieder in ihre wilde Freiheit fliegen zu lassen.“ Marek war, als öffneten sich plötzlich sämtliche Erscheinungen wie Samen. Sie hatten doch brach da gelegen und nichts hatte sich gerührt, oder? Nicht einmal der Wind hatte irgendetwas in Bewegung gebracht. Also nicht im Innern. Da fuhr plötzlich eine Brise ums Haus und das Foto seiner verstorbenen Frau bewegte sich kurz in der gleichen Linie wie die Blätter am Baum und streifte seine Haut letztlich wie eine Liebkosung. Vor seinen Augen bekam alles, was es gibt!, Farbe und Dreidimensionalität. Hatte er so fest geschlafen? Die Frau hatte indes weiter erzählt, schien ihm jedoch nach unverstandenen Worten abwesend zu werden. Bevor er sie verlieren würde an die Belanglosigkeit irgendeines Gerätes, unterbrach er sie: „Entschuldigen sie, gute Frau. Hätten sie etwas dagegen, wenn… Ihre Voliere. Ich meine, dürfte ich sie mir…ansehen?“

Einige Wochen später

Marek ließ sich die reifen Kirschen in der Sommersonne geradezu in den offenen Mund rieseln. Ein paar letzte Blütenblätter trieben umher und fielen wie Schneeflocken in die zirpende Landschaft und letzte furchtvolle Bilder in ihm schmolzen. Zurück blieb der reine Moment. Sein Leben breitete sich aus um einen friedlichen Kern herum. „Lässt du es dir gut gehen?“ Natalie streifte seine Schulter eher flüchtig, lächelnd, leise, zart, bevor sie sich neben der alten Badewanne ins hohe Gras zu ihm setzte. „Was bleibt mir denn auch sonst übrig? Ich bin nur ein Glied in einer Kette und habe kaum Macht über mein eigenes Leben. Ich habe nicht die Macht, das Weltgeschehen zu beeinflussen. Vielleicht werden wir irgendwann um´s bloße Überleben kämpfen müssen. Was jetzt geschieht, ist ein Splitter eines Spiegels. Ich hoffe, er bringt uns Glück.“ Natalie erwiederte „Ich glaube einfach, dass jeder gesunde Vogel, den ich wieder fliegen lasse, ein guter Gedanke in der Welt wird, ein gesundes Molekül in einem großen Organismus. Das ist leider alles, was ich kann. Und irgendwie mit dir sein.“ Sie naschten noch etliche Kirschen. In der Nacht bei offenem Fenster kam Regen. Das Rauschen mischte sich in ihre Träume, in ihre atmenden Körper, und sollte ihnen als beruhigende Musik in Erinnerung bleiben.

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