Sehnsucht/Magda und Lena
(2012)
Es ist radikal erstaunlich, wozu unser Körper in der Lage ist! Er übersteht das Hineinschneiden in die Haut, in das darunterliegende Fettgewebe, Organe und alles wird irgendwie zusammengehalten, so dass es abheilen kann, die Haut sich schließt, das Herz weiterhin das Blut durch den Körper pumpt, das Gehirn uns unbemerkt Anweisungen erteilt, welcher Fuß vor den anderen zu setzen ist…
„Was du brauchst, ist ein Dildo.“ „Ich achte und liebe mich selbst. Ich achte und liebe mich selbst. Ich achte und liebe…“ „Hey, was machst du denn da?“ „Ich achte und liebe mich selbst. Ich…“ „Hörst du mir überhaupt zu?“ „Was?“ „Ich sagte, du brauchst einen Dildo!“ Scham durchzog Magda wie ein glühendes Eisen. Aber tiefer noch die Lust, das Leben bei den Hörnern zu packen. Sie musste doch endlich damit umgehen lernen, einen Körper zu besitzen. Nein, falsch: ein Körper zu sein! Und was tut da die liebe Seele, die sie wann immer es ging zu ihrer Glorie heraufbeschwor? Sie sah zu wie Gott. Sie glaubte nicht an Gott. Aber da war wirklich so etwas, wie ein überschauendes, umfassendes Etwas, das sie herbeilauschen musste und dann, wenn sie es in sich wiederhallen hörte aufmerksam an seidenen Fäden hielt, um die Welt zu begreifen. In diesem sehenden Schwebezustand versuchte sie zu verharren mit jeder kleinsten Handlung, jedem Wort und jedem Blick. Zu schnell verirrte es sich wieder wie ein Glühwürmchen und die Ereignisse des Tages, die falschen Worte, die kaputten Menschen, die aufgeschobenen Erledigungen drückten auf der Brust und sie merkte, wie alles sich wieder zu machte zu einem schützenden Panzer. Immer aufrecht bleiben und den Dingen ins Auge sehen. Und Sex: Das war wie ein Begreifen der schonungslosen Realität und zugleich ein tröstender Balsam, der die klaffende Wunde heilen sollte. Es war beides in einem: Gut und Böse. Oder so ähnlich. Oder jenseits davon?
„Haaallo!“ Lena setzte sich neben Magda auf´s Sofa und versuchte, ihr direkt in die Augen zu schauen. Vorsichtig richtete diese ihren Blick auf. Bloß nicht wieder verschmelzen zu schnell. Bloß das nicht riskieren! Erst mal die Wände begucken. Halt suchen, bis der Distanzpunkt in ihren Augen sicher war. „Ja, was ist denn?“ „Du warst wieder ganz woanders. Bleib hier, bitte.“ „Ja.“ „Was ist hier?“ „Na du natürlich.“ „Ja ich. Und du. Wir beide treffen uns gerade. Bleib hier.“
Niemand hat behauptet, dass es leicht ist, erwachsen zu werden. Viele verharren in der Begegnung im Kindsein oder aber sie werden hart und drücken egoistisch ihre Ziele durch. Aber es muss nicht so sein, dass Emanzipation für den Einzelnen Theorie bleibt, das Individuum sich entweder gesellschaftlichen Zwängen unterwirft oder den Rest der ihm verfügbaren Welt zu ihrem Unglück zwingt. Hierarchien können flacher werden und jeder einzelne größer. Das Ende der autoritären Erziehung ist der Beginn des Dialogs in unermesslichem Reichtum, der totgeschwiegen werden sollte aus lauter Angst vor dem Leben. Aber nun lasst uns leben! So schwer das auch sein mag.
„Was soll ich denn eigentlich mit einem Dildo anfangen?“ „Frag doch nicht so bescheuert. Ihn dir einführen!“ „Ach so. Ich dachte, ich stell ihn mir ins Regal wie einen Kerzenständer…“ „Das: wäre natürlich auch eine Art damit umzugehen.“
Im Gegensatz zu Magda hatte Lena gelernt, durch ein Redegewebe nicht nur Distanz zu anderen zu halten, sondern eben auch einen Ich-Körper zu bilden. Sie verfiel selten ihren Emotionen, war aber kaum weniger sensibel. Schließlich ist es ja auch so, dass die Emotionsflut, von der Magda häufig wie von einer Meereswelle heimgesucht wurde, das Registrieren äußerer Geschehnisse und Regungen zwar nicht verhindert, sondern im Gegenteil ungefiltert heranlässt, doch das adäquate Reagieren darauf oft unmöglich macht. Es geschieht dann intuitiv, aber nicht bewusst.
Längst schon hätte sie lernen sollen, diese verdammte Nettigkeit abzulegen. Manchmal schien es, als trüge sie als Tochter mehr Sorge über ihre Mutter denn umgekehrt. Als Abtragen der Schuld gewissermaßen, eine eigene Frau zu sein.
Ihre Eltern waren nicht in der Lage, sie frei sein zu lassen. Also hing sie mit ihrer kindlichen Liebe an ihnen fest, um es auszugleichen. Als ob ein Mangel an Freiheit durch einen Mangel an Freiheit auszugleichen wäre! Doch so paradox war ihr Empfinden manchmal: Nicht-Loslassen um losgelassen zu werden. Nie würde das so geschehen! Sie selbst müsste gehen, um vor ihnen frei zu werden. Langsam nur begriff sie, dass sie nicht dafür verantwortlich war, dass ihre Eltern sich aus der emotionalen Verantwortung gestohlen hatten. Beide! Sie waren sozusagen unlebendig.
Doch sie suchten ihr Glück. Sie fanden sich. Und als Kind dieses Glücks entstand eben sie. Sie wollten, dass sie unbescholten aufwächst und nie Opfer von Gewalt oder Armut würde. Wie hätten sie ahnen können, dass ihre Anwesenheit alles zählte? Wie hätten sie wissen können, dass ihre Härte, mit ihrem eigenen Leben umzugehen, sich niederschlug auf sie? Woher das Wissen nehmen, dass Emotionen und das Zeigen der eigenen Person alles bedeutet, um ein sicheres Nest zu sein?
Sie versteckten sich vor ihr. Auch war ihr nie klar, dass auch ihre Eltern diese schmutzigen Dinge taten, vor denen sie sie bewahren wollten. Sie versteckten sich ja ganz und gar! Als Kind durfte sie sie kaum anfassen. Nur zum Einreiben der Sonnenmilch im Urlaub. Und ihr Vater hatte einen großen, breiten Rücken! Ja, sie erinnerte sich, wie viel Sonnenmilch sie für diese große Hautfläche benötigte. Der Rücken ihrer Mutter wiederum war sehr schmal und klein und stets fürchtete sie, diesen zu verletzen… Und ihr Vater besaß große starke Hände, ihre Mutter sehr zierliche. Aber was bedeutete das alles?
Ja, es wurde alles zugedeckt. Strukturen des Tages und der Nacht mussten reichen, um ein Ersatz für zelebrierte gutherzige Rituale zu sein. Es wurde nicht mit Leben gefüllt, was nach Leben dürstete. Doch es dürstete! Pflichterfüllung war das A und O, nichts deutete darauf hin, dass überhaupt jemand wach war! Natürlich stand jeder morgens aus seinem Bett auf und ging seiner Wege, nachdem er mit einer Tasse Kaffee auch ein richtiger Mensch geworden war. Er tat dann, was er tun musste. Sehr fleißig. Doch wer diesem Pflicht geschuldeten Fleiß trotzte, wurde hart bestraft. Wer war denn da wach?!
Immer noch fühlte sie sich häufig gefangen, hatte das Gefühl, ausbrechen zu müssen aus ihrem Leben. Es schien selten ihr Leben zu sein. Manchmal war es das Leben eines Kindes auf der Suche nach der großen Liebe, dann das Leben eines Erwachsenen auf der Suche nach beruflichem Status, selten nur die innere Orientierung nach Selbstakzeptanz in allen Dingen.
Aber genau in diesem Schwebezustand befand sie sich ja gerade.
„Lena?“ „Ja.“ „Ich hab dich lieb.“ Wie oft endeten Gespräche zwischen ihnen so, dass sie ihrer Freundin unbedingt als Unterpfand mitteilen musste, dass sie sie liebte. Als wüsste diese das noch immer nicht und mehr: als wüsste sie selbst es nicht, dass es genauso war. „Nehmen wir an, du stellst ihn dir ins Regal. Und dann?“ „Mh, dann kann ich ihn bewundern in seiner vollen Größe.“ „Du spinnst. Was hast du denn davon?“ „Hast Recht. Ich sollte mal ins Erleben gehen. Ich weiß.“ „Genau: du solltest mal leeben! Was hast du oder was hat irgendwer davon, wenn du Tote um dich versammelst? Du machst dadurch niemanden lebendig oder lebendiger. Du bist hier, um auf der Welt zu sein. Was ist so schwer daran, das zu verstehen?“ „Ja, aber was meinst du mit leben? Das Leben besteht doch nicht nur aus Sex! Ich kann doch ebenso gut Möhren schälen oder Auberginen malen, einen Liebesfilm sehen oder einer gemeinnützigen Organisation beitreten und mich aufopfern.“ „Ja, das hättest du wohl gerne so: dass du dein Ich wieder verschlingen lässt, um nicht darum kämpfen zu müssen. In deiner ganzen Selbstlosigkeit bist du manchmal ziemlich blind und taub für die wahren Belange der anderen. Begreifst du nicht, dass etwas fehlen würde, wenn wir dich nicht hätten? Ich meinte außerdem nicht, dass du sexsüchtig werden sollst, denn das wäre ja die andere Seite der Medaille.“ „Welche Seite welcher Medaille?“ „Ach… Ich meine die durchbrechende Impulsseite deiner so strengen Vernunft, mit der du dich selbst und deine Lieben in Schach hältst.“ „Ich habe Angst.“ „Jetzt lass mal die Angst Angst sein und schau dich im Spiegel an.“ Wie in Trance wieder - wenn ihr jemand so nahe kam, kam das vor - bewegte sie sich in den Flur und sah in den von Muscheln bestückten hellen Spiegel. „Und: Was siehst du?“ „Ich sehe ein junges Gesicht mit großen Augen.“ „Und noch?“ „Haare, Augenbrauen, einen vollen Mund, eine Stubsnase…“ „Siehst du etwa keinen Körper?“ Sie begann sogleich, sich zu genieren. Der Blick wollte beim Umschweifen der Körpersilhouette stetig und eiligst zurück zum Gesicht wandern. Was war denn daran so schwer? Sie hasste es, wenn Menschen einen auf der Straße von oben bis unten musterten und schließlich bei den Schuhen, nicht im Gesicht hängen blieben. Darum tat auch sie das bei niemandem. Aber sie hatte noch nie überlegt, dass sie auch sich selbst vor anderen nicht musterte, sich selbst aus Rücksicht geradezu ignorierte…
Doch nun begann unter dem Mitgefühl ihrer Freundin und ihrem eigenen Blick ihr Körper geradezu zu glühen. Ja, er wuchs zur Größe einer Götterstatue und strahlte leise wie neugeboren oder wie magisch. Was war das nun für ein berstendes und unbeschreiblich freies Gefühl! Sie strichen vorsichtig umeinander wie Katzen, bis Lena sie an der Schulter mit einer kleinen Bewegung streifte. Und schwups war sie wieder in ihrem altbekannten Schlupfloch. Schade. Aber man konnte ja nicht gleich erwarten, dass farbige Eier in der Öffentlichkeit durch ihre Vagina auf einen Bogen Papier für eine Ausstellung glitschten. Wie frei oder wie verirrt muss man sein, um auf diese Weise dem Publikum seine Unschuld vorzuführen? Es würde ein allmählicher Prozess sein. Und allmählich würde Magda auftauen und mit ihrer Lebenswärme ihre Welt färben. Natürlich blieben viele bzw. die meisten davon unberührt, die schon Halbtoten nämlich, ohne Lächeln, ohne Spirit, die „Reglementierten“, die ihre Alltagssätze schon vor gefühlten hundert Jahren genauso abspulten wie heute. Natürlich. Erreichen kann man nur solche, welche noch etwas wie offene Chakren spüren. Die, welchen Liebe noch etwas bedeutet und denen Träume nicht nur Schäume, sondern manchmal richtungsweisende Bilder sind. Und auf der obersten Sprosse ihrer Karriereleiter sollten sie dann auch nicht gerade sein, denn von dort aus sehen sie evtl. nur den Kopf der Akteurin, ihren Scheitel, doch nicht das Unfassbare. Es sollte alles immer schön fassbar sein und bleiben, nicht wahr? Erklärbar, psychologisch nachvollziehbar. Was tun, wenn die Rechnung nicht aufgeht? Ja, was tut man dann?: Man wird verdrängen oder ins eigene Ego es so adaptieren, bis alles so weiter laufen kann wie bislang. Man setzt also den Geschehnissen und Fakten des Lebens seine Maskerade auf. Diese hat immer gehalten, also wird sie´s wohl auch weiterhin schaffen. Und kommt da doch plötzlich mitten auf dem Weg zum Büro ein Farbei aus einer Vagina, aus einer vollständig nackten, sogar rasierten, allzu bekannten, die sich uns doch nicht dauernd ins Bewusstsein drängen sollte, ja : Dann sind wir in Not. Wir setzten uns ins Büro und zaudern, hadern, raufen uns die Haare und wollen so etwas „Abartiges“ nicht haben, wollten wir nie. Doch woher das wiederkehrende Aufblitzen dieser Szene? Die Nachrichtenberichte im TV über neue Gräueltaten in aller Welt lassen uns doch auch unserem Alltag in Ruhe nachgehen. Also was ist mit diesem verdammten Farbei los? Es vereint
etwas, was man uns gelehrt hat, nicht vereinbar zu sein: Laszivität, Exhibitionismus und verspielte Unschuld. Schön.
„Immerhin legen auch Hühner Eier.“ Meinte Lena. „Und, was?“ „Die essen wir sogar!“ fügte sie mit einem sardonischen Grinsen hinzu und kroch fast in Magdas Gesicht. „Ja, ja, du kommst da noch drauf. Ich weiß das, ich weiß das!“ tanzte sie fröhlich hüpfend im Raum herum. „Auf was soll ich denn noch kommen? Ich bin doch keine Veganerin.“ „Ach! Du verstehst es schon wieder nicht! Es geht um Freizügigkeit und Paradoxien des Lebens. Es könnte Dein Durchbruch sein!“ „Nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert…“ „Ja, das auch, aber das mein ich nicht. Du würdest dich trauen, Dinge zu tun, die du noch nie getan hast, Dinge die du tun wolltest, ohne es zu wissen, Dinge die in dir aufsteigen wie Fata Morganen, aber sich anfühlen wie ein Baby, das sich umherrollt, seine Finger lustig findet, das Leben anstrahlt, als gäb´s nichts Besseres. Du könntest glücklich sein!“
Unser Körper ist unser Haus. Also sollten wir ihn hegen und pflegen und vor allem auf ihn hören. Er verleiht uns ja gewissermaßen Flügel. Naja, zumindest Beine und Arme. Wir müssen natürlich aufpassen, wen wir in unser Haus einladen. Wenn da jemand nur an unsere Vorräte ran will oder unmögliche Parolen schwingt, soll er eben wieder dahin gehen, wo er hergekommen ist. Dann wischen wir den Boden und alles ist wieder gut, als sei nichts gewesen. Einfach mal locker lassen. Wenn wir wissen, dass es uns gehört, kann jeder andere seines ebenso behalten und wir müssen uns nichts von ihm anziehen, was uns nicht passt.
Es flatterte als Strahlen zwischen ihr und dem Sein und war klares Licht im Auge, im Augenblick. Und die Sehnsucht nach dem Frost und dem klarsten Licht im Jahr wurde stärker. Da höhlte der Wind schon röhrend die Laterne draußen aus und die Finger wurden frostig. Sie sog an der Zigarette. Sehnsüchtig nach Wahrheit. Immer noch war das Reden in den Räumen weit unter der Wolkendecke und nicht genug. Es reichte längst nicht heran an die Weite, die sie spürte! Zu wenig Aufklärung und alle hingen und alles hing aneinander! Sie hätte sich bar legen mögen unter den Himmel im Glauben, nun verstünden es alle. Aber was? Ganz leicht und einfach: Dass man nun endlich alle Ich-Strukturen fallen lassen und Gemütlichkeit vor dem Tod keinen Raum mehr geben durfte!
Sie wollte sehen! Doch was gab es da zu sehen? Ich-Strukturen. Natürlich. Verachtung auch. Egoismus. Wie sie das alles hasste! Sie wollte Reinheit sehen. Wo?! Bei den Tieren? Doch sie suchte Halt an der Schönheit der Dinge. Immer noch. Wenn da mal ein weiterer Schock gekommen wäre… Wie viele Schocks braucht ein Leben, um fruchtbar zu sein?
Die Burgen der Männer, die Schlösser der Frauen: Verfestigte Egos, stramme Schuhe, in denen sie nicht mehr gehen wollte… Hieraus resultiert doch meist Kampf und letztlich Gewalt. Sex wurde zur neuen Ansage. Doch erweitert in spiritueller Hinsicht, als Vehikel zur Freiheit! Mehr als Tierliebe brauchte es natürlich Menschenliebe. Wo war sie geblieben? Alle wollten an erster Stelle stehen, die besten und noch besseren Menschen sein. Es wurde verdrängt und ausgewichen: Wer vegan lebte, brauchte sich nicht sonderlich um Menschen zu scheren: Er tat ja niemandem etwas, nicht mal der Fliege an der Wand! Doch den Nicht-Veganern Verachtung. In manchen Kreisen, wie gesagt, nicht etwa Leben gegen Gewalt sondern gewaltloses Leben. Was ist nun richtig? Was ist überhaupt praktikabel? Leichter ist es immer noch, auf Fleisch zu verzichten, als Farbe zu bekennen. Das nun war ihr klar. Was wäre nun, wenn sie oben ohne auf der Einkaufsstraße stünde? Was das damit zu tun hat? Nochmal: Sich zu zeigen ist stets schwieriger, als einer bestimmten Art von Konsum nachzueifern.
Die sozusagen universelle Enthüllung war im Anzug. Noch in der Kindheit wie märchenhaft intensiv Gerüche, Geschmäcker, Gefühle…, in der Jugend sich in Leere wie Sehnsucht verlierend, im frühen Erwachsenenalter durch festgehaltene vergangene Konstrukte überlagert und abgeschottet, erhielten mit einer neuen Klarheit wieder Einzug. Die bange Vorsicht, Altes loszulassen, stellte sich als übertriebener Schutz vor der Welt und dem eigenen Aufrechtsein heraus. Die Welt, das war ja nicht nur Gefahr und Gewalt. Es war auch Verbundensein. Wie hatte sie als Kind alles noch geliebt! Ja, geliebt. (Selbst wenn manch einer behauptet, Liebe lerne man erst mit zunehmendem Alter.) Ihre Eltern, aber auch kleinste Tiere. Sie begrub nicht selten ein kleines, das am Wegesrand seinen letzten Atemzug getan hatte. Und: Der Duft der Wassermelone, sogar des Ascheweges hinter dem Haus, das blaue Trinkeis, die angefrorenen Lippen dann, der Herbstlaubgeruch im Wald, die Kirchenglocken am Abend, das Amselschnilpen zum Abschied des Tages… Alles, was greifbar war, schien zugleich gut zu sein. Merkwürdig düster fühlten sich die „Zechabende“ der Eltern mit ihren Bekannten, Freunden, Verwandten an. Wenn das Licht schummrig war, Alkohol getrunken wurde, ein undefinierbares Knistern in der Luft lag und ein Ausblick in eine unbekannte, geheimnisvolle Welt, keimte die Sehnsucht und eine leise Furcht. Später zog Leere in die Brust, Stummheit, unbeschriebene Fragen. Und die Sehnsucht schmerzte unerträglich. Nach einem Kuss, einer Berührung, nach Geborgenheit. Denn mit der Jugend verstummten auch die Eltern, als sei alles Leben aus ihnen gewichen. Mit Scham wurden mauschelnd erste Zeichen der körperlichen Reifung bedacht. Heimlich. Doch als geschehe es das erste Mal, das unglaubliche und drohende Mal, dass ein Kind zur Jugend heranreifte, wurde es doch wie eine ungeliebte Puppe ans Licht und in Schuldbehaftung zugleich gezerrt. Ebenso und noch schlimmer waren selbstbewusste Widerstände oder nur Verlautbarungen eigener Gedanken und Gefühle. Entweder als unernst bagatellisiert bis hin zu oberflächlicher Verachtung, oder als Bedrohung des Familienkonsens niedergeschlagen in narzisstischer Kränkung, wurde Erwachsenwerden lediglich durch Übernahme fleißiger althergebrachter Pflichten erlaubt. Die Lust zu leben, die Freude, sich selbst zu spüren schien in totalem Widerspruch zur erwachsenen Lebenswirklichkeit zu sein. Und ebbte also mehr und mehr ab, bis ein Haufen Schuld, Scham und Elend übrig blieb. In die Hölle gestoßen für die Distanzierung von den „Über-Eltern“, musste stets eine ersatzweise Symbiose herhalten für ein bisschen Glauben an sich selbst und ein wenig Liebe. Und darin flottierend wurde diese zu Vergötterung. Darin entstand ein gleißendes Licht, das nicht selten barfüßig sie ins Jenseits zog, um ganz und gar zu verschmelzen mit der großen Liebe und endlich rein und schuldfrei zu sein. Endlich! Jahrzehnte vergingen in Bezugnahme zum eigenen und der Welt Ende.
Doch nun, da sie, und wieder: Endlich!, freies Geleit bekam, fiel alles wie Schutt von ihr ab. Der Schutt der Burg um das Schloss. Und so ließ sie die Zugbrücke herunter, frei waren jetzt ihre Gedanken, bisweilen sogar vollends leer. Die Panik vor Gedankenfreiheit wie in einer Diktatur wich einem wiedergespürten sinnlichen Lebendigsein und Mut, dem eigenen Willen nachzugehen, ja überhaupt erst nachzuspüren. Und das Überraschendste war: Frei von der Burg, geöffnet, nahm sie Grenzen ihrer Gefühle und Haltungen wahr, die zuvor im einheitlichen Buhlen um Frieden verschwommen waren. War sie feige gewesen? Oder war das ihre Überlebensstrategie gewesen, um nicht der Vernichtung der Lieblosigkeit anheim zu fallen?
Offen sah sie Lena in die Augen, ins Gesicht, und nahm zugleich die weiträumigere Körperlichkeit wahr: „Lena, ich brauche keinen Dildo mehr.“ „Ach, du bist aber schnell. So früh hätte ich nicht damit gerechnet.“ „Du wusstest es?!“ „Magda! Meine liebe naive Magda. Ich bin deine Freundin. Wer, wenn nicht ich sollte es früher ahnen, als du selbst, dass du für große Schritte bereit bist?“
2.
Strudel zogen in die Tiefen des Ozeans bis in luftleere Räume. „So ist das also.“ Sie erkannte es wieder. Stets war es die bekannte Situation: „Jetzt also ist es so weit!“ Es ist noch nicht die Urhölle, in der alles seinen Anfang nahm. Wieder in einer gewöhnlichen Nacht atmete sie noch.
Es entblätterte sich, stob in alle Richtungen, war nicht zu fassen, blieb als bloßes Überlebenwollen im Körper zurück, das Ich. Wenn sie doch irgendwann bereit wäre, loszulassen! Die Begleiterin Angst ließe sie in Ruhe leben dann.
„Du musst es noch nicht loslassen. Du hast es ja noch nicht einmal ganz ergriffen.“ „Doch, wenn ich es ergreife, muss ich darum fürchten, es wieder zu verlieren.“ „Ja, so ist das. Die Furcht begleitet den Besitz. Aber es geht darum, dich nicht davon beherrschen zu lassen, nicht alles abzulegen, was zum Leben dazu gehört. Du wirst noch häufig die Erfahrung machen, dass etwas stirbt. Und ja, irgendwann wirst auch du sterben. Aber nicht gerade jetzt! Und ich glaube, das ist der springende Punkt: Nun, da du dich vollständig wahrnimmst, bist du plötzlich im kalten Wasser, nicht wahr? Du weißt selbst, dass es nicht darum geht, wieder unterzutauchen, sondern dich endlich treiben zu lassen in den Flüssen der Vergänglichkeit und den Kopf dabei trotzdem klar zu halten. Gewissermaßen als Beobachter deiner selbst. Du schaffst das!“ „Aber wer ist das?: Ich selbst. Ich bin doch mal so und mal wieder so, mal hart, mal weich, mal groß, mal klein, mal traurig und dann wieder fröhlich…“ „Ja, du bist widersprüchlich. Soll ich dir etwa aufzählen, was du alles bist und wie du bist? Du darfst vieles sein! Was willst du nun: besitzen oder loslassen? Das wäre doch narzisstisch, dir ein vollständiges Bild machen zu wollen! Sei wer du bist. Dann wirst du auch erfahren, was du willst. Ich hoffe nicht, du willst dann schon wieder sterben.“ „Aber ich wollte doch nur ich sein! Ich wollte nicht tot sein!“ „Du kannst dir selbst das vielleicht vormachen, aber nicht mir. Geburt und Tod liegen dicht beieinander, das weiß ich wohl. Und darum zieht es dich in Todesnähe: Weil du gerade dabei bist, neu geboren zu werden. Ich habe eine Ahnung, wie schwer das gerade für dich ist. Doch lass zu, was da kommt! Es wird alles gut werden.“ Magda umarmte ihre gute kluge Lena und musste beinah weinen. Hatte Lena je so eindringlich und berückend zu ihr gesprochen?
In ihren besten Jahren trug ihre Mutter einen bronzebraunen Glockenrock, der weit über die Knie reichte, gerade beim Friseur gewesen fuhr sie auf dem Fahrrad nach Hause. Wie schön sie da war! Doch teilte sie ihre Schönheit nicht. Es wäre wichtig und gut gewesen, Magda als Tochter daran teilhaben zu lassen. Aber sie wusste wahrscheinlich nicht, wie man seiner Tochter dieses Geheimnis zeigt und nicht, dass es wie vieles sonst ein Anrecht der Kinder gewesen wäre. Wenn man ein Kind hat, ist man doch eigentlich dazu verpflichtet, sich als Mensch, der man ist, zu zeigen. Man kann und darf sich vor der Welt verstecken, doch darf man das auch vor seiner eigenen Familie? Natürlich darf man. Doch entweder durchschauen Kinder dieses Versteckspiel oder sie nehmen diese Maskerade für pure Wahrheit. Und sie werden möglicherweise ein halbes Leben lang danach forschen, was es damit auf sich hat.
Es ist ja nicht allein Sex. Das wäre zu einfach und zu billig. Eine ganze Generation hat ihre große Schuld verborgen bzw. die ihrer Vorfahren. Und alles, woran wir uns je schuldig gemacht haben, wird miteinander vermengt. Begonnen bei der Erbsünde im Paradies. Es ist uralt: Sie als Frau und Mutter muss reinen Herzens und zu gewissem Maß auch am besten ein wenig dumm sein, während er , Mann und Vater, strotzen soll vor Tatendrang, Kraft und…Finsternis. Was einmal Licht sein wollte, wurde dunkel. Was einmal gutherzige Klugheit war, wurde eisklare Intelligenz. Und diese ist eben nicht vermeintlicher weise hell, sondern gegenteilig. Der Engel, der Gott sein wollte, wurde Luzifer. Und eine Frau, die wissend ist und hell, Lilith, wurde u.a. im Mittelalter verfolgt und getötet. Was in der NS-Diktatur durchbrach, war Luzifer. Es war die männliche Disziplin versus Gleichmut, Fleiß versus Offenheit, Pünktlichkeit versus Zufall, Kälte gegen Wärme… Das Weibliche Prinzip sollte ausgerottet werden, denn es ist eine Gefahr für überkommene Gesellschaftsstrukturen des Patriarchats. Chaos der Weimarer Republik war ein fruchtbarer Nährboden; Da drang denn auch schon der nationalsozialistische Samen ein und wucherte. Jiddische Kultur, Musik, freie Kunst: all das und mehr, was nach Leben drängte, Leben war!, wurde in Gaskammern gepfercht und im Keim erstickt. Und ihre Eltern wussten das! Doch statt einen neuen Weg zu beschreiten, lebten sie in alten Traditionen. Die Schuld blieb ihnen unbewusst. Doch umso hartnäckiger.
Und es ist auch Sex bzw. die Eigenschaft der Frauen, Kinder gebären zu können. Was gibt es da in diesem Zusammenhang noch mehr zu sagen? So etwas muss doch Angst machen. Frauen können der Welt neues Leben schenken. Also wurden sie von Männern eingenommen und vor der Welt verborgen.
3.
„Ich liebe dich!“ „Ja, ich weiß.“ „Liebst Du mich nicht?“ „Natürlich! Natürlich liebe ich dich. Aber muss ich dir das sagen? Ich fühle mich gezwungen dann.“ „Aber sollte das nicht etwas Freiwilliges sein?“ „Ja. Eben. Und ob ich Dich liebe! Ich gehe mit dir durch die Meere der Verzweiflung, durch die Wüsten der Einsamkeit…“ „Warum drückst du dich so pathetisch aus?“ „Weil es so ist.“ „Wie ist es denn?“ „So“: Küssen bis in die Himmel grenzenloser Weite, Küssen in die Tiefen der Gebärmutter der Erde. Lippen küssen jetzt! Und dann: Fühlen bis ins Mark. „Du bist mittlerweile mein eigen Blut. Du brauchst keine Liebesbekundungen. Küss mich jetzt und hier! Ich bin eine verzauberte Prinzessin.“ Und kaum, dass er ihre Lippen berührte, stand sie da als eine wilde, mondäne Blondine in kurzem Leopardenkleid und roten Lackhighheels. „Wer bist du?“ fragte er wie von den Socken. „Ich bin Eva. Kennst du mich nicht mehr? Wir haben uns kennengelernt, als du gerade mal wieder Lust auf mich hattest.“ Sie fuhr ihre Krallen aus, schürzte ihre geschminkten vollen Lippen und gab ihm den Augenaufschlag ihres Lebens. „Lust auf DICH? Ich kann mich nicht erinnern.“ Was tu ich hier? Er wusste nicht, wohin mit seinen Händen, starrte sie noch immer fassungslos an. „Äh. Magda?“ „Magda? Die ist soeben verreist. Sie muss tiefe Gruben ausheben. Lass sie. Lass uns tanzen gehen. Ich kenne hier in der Nähe einen coolen Laden.“ „Ich will nicht mit dir Tanzen gehen! Ich will Magda!“ „Ich bin Magda.“ „Gerade hast du noch behauptet, sie sei verreist.“ „Komm, setz dich. Ja, sie ist verreist, aber ich bin auch sie. Verstehst du? Ich bin ihre lustvolle Seite. Die Ungenügsame, immer Hungrige.“ Sie begann, seine Brust zu streicheln. „ÄH, hör damit auf! Was wird hier gespielt?“ Er sah sich um. Immer noch die gleichen Räume. Doch statt der Specksteinfiguren und Ölgemälde war alles über und über bespickt mit Augenbinden, Federboas, Nacktfotografien und - Schock- Dildos. In allen Varianten: zum Umschnallen oder Abschnallen, rote, fleischfarbene, schwarze, große, dicke, lange… Er gab auf. „Okay. Gehen wir Tanzen.“ „Juppie!“ Er wusste - nichts mehr.
Sie staken die vereiste Straße entlang und ihre Schritte hallten wider an den hohen Häusern der Großstadt. Vor allem ihre dämlichen Highheels. Er grummelte in sich hinein. Er wollte ihnen Bier holen in der Disco. Sie wollte Wodka-Red Bull. Ok. Es half ja sowieso nichts mehr. Dann zog sie sich beim Tanzen zudem noch die Schuhe aus. Naja, immerhin etwas. Da lief ein Esel über die Tanzfläche. Ein struppiger alter süßer grauer Esel, wie er im Buche steht. Sie setzte sich auf ihn und wedelte mit ihrem Schal herum, als habe sie gerade die Bastille gestürmt. „Glory Days“ von Bruce Springssteen lief gerade.
Sie tanzte nur so, wild oder langsam und warm, hart und weich, mit oder ohne Hüftschwung. Doch immer-ja, das musste er zugeben-strahlend. Sie strahlte wie ein Atomkraftwerk. Irgendetwas war an ihr: niedlich. „Du bist niedlich.“ Sagte er ihr geradeheraus in einer Musikpause. „Ich?“ Sie lachte schallend und tanzte weiter. Dann warf sie ihm hin und wieder einen süßen Blick zu, so von der Seite, ein wenig den Kopf geneigt. Hatte sie Anmut? War es das? Und waren es Kaninchen, die um ihre Füße umher hoppelten? Etwas juckte an seiner Nase. Er nieste so laut und stark, dass ein Sturm in der Disco losbrach und… Magda reichte ihm ein Taschentuch. „Du hast wild geträumt. Du hast im Schlaf sogar gesungen.“ „Was habe ich denn gesungen?“ „Oh, ich glaube es war „Love me tender“ von Elvis.“
„Ach, Du bist so lieb zu mir.“ Lieb? Wenn Du wüsstest! Sie war kein „liebes Kind“ mehr, sie war eine Fanatikerin. Sie schlängelte sich weich, sanft und doch scharf beobachtend herum, bis sie dort zur Attacke ausholte, wo man ihr nicht genügend Respekt zollte, wo man sie nicht liebte. Es konnte sie dann wie Lava durchzucken und brach sich in wilden und lauten Wogen, harten und beinah an Frost grenzenden Hitzeschüben Bahn, bis die Würmer aus ihren Holzlöchern gekrochen kamen, die sie insgeheim von Beginn an, man könnte sagen, von Anbeginn der Welt, schon gewittert hatte. Dann verdunkelte sich der Raum und ihre Hitze entströmte ihr unwillkürlich, so dass man sich veranlasst fühlte, bloß und sogleich die Fenster zu öffnen, um die Dichte der Atmosphäre aufzuklaren. Doch war die Wut einmal verraucht, hatte sich das folgende Schuldgefühl eingenistet, entstieg ihre Seele in die absoluten Höhen und Tiefen von Verstand und Gefühl. Noch anschmiegsamer und leisetreterischer als zuvor, doch umso kühler im Grunde ihrer Wahrnehmungskapazität. Dann meinte man, in ihrer Gegenwart plötzlich den Boden unter den Füßen zu verlieren, da verschoben sich Raum und Zeit. Sie selbst schien am Morgen wie ein naives, heiteres Kind, am Abend als eine welke, altersweise Frau. Und gläsern. Sowohl konnte man in ihr lesen wie in einem Buch, als auch schienen es gläserne Augen, durch die sie sah. Und wieder spielte die Welt verrückt! Der Mann, der seinen vorletzten Lebenshauch ausblies, indem er öffentlich von der Güte und Barmherzigkeit Gottes drohte; Die Kohle, die im teuersten Hotel der Welt steckte; Ebola; Terroranschlag auf eine Satirezeitung in Paris… Die pure Wirklichkeit rasselte mit ihren Säbeln.
„Aber meinst du wirklich, dass dies die Wirklichkeit ist?“ fragte Lena ohne Umschweife. „Ja.“, sagte Magda mit schlichter Bestimmtheit. „Selbst wenn es eine andere ist. Und selbst wenn man sie nicht lange aushalten kann, da das Licht zu grell, die Geräusche zu schneidend sind. Es muss durchlebt werden bis zum letzten Tropfen der Erkenntnis. Denn, was hat man sonst, um zu lernen, was Leben ist? Und das Janus-Licht gebietet geradezu eine lächelnde/lachende Seite und eine traurig-ernste. Nichts steht fest, aber alles kann kommen. Das muss man doch ausnutzen. Es fällt ja quasi vom Himmel. Nur nicht das Gleichgewicht verlieren! Darauf kommt es an. Das ist schon beinah alles.“ „Ja, aber auch nur beinah. Du weißt schon, dass du dich auf gefährlichem Terrain bewegst?“ „Wer sollte das besser wissen? Aber du siehst doch, dass hier passiert, was wir beide brauchen: Die Wahrheit kommt ans Licht!“ „Meine Güte! Du leuchtest ja beinah. Sei etwas vorsichtiger mit … ähm…dem, was du für Wahrheit hältst.“ „Mach dir keine Sorgen. In ein paar Tagen wird es gewesen sein wie ein Traum.“ Sie hielt inne, fasste sich an die Lippen…
Wenn man nur endlich die Batterie aus ihr herausholen könnte… Irgendwann hatte sie begonnen, eine geheime Quelle anzuzapfen und tankte Kraft. Sie wusste selbst kaum etwas davon, doch es war tief in ihrem Innern, dort wo Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagen, am Ende ihrer Welt. Dort hatte sie schlicht und ergreifend zu lang in die Sonne gesehen. Und seither war sie getrieben. Sie stand einfach nicht still. Nicht einmal wenn sie schlief. Bzw. ging es dann oft erst richtig los, das „wahre“ Leben. Hier konnte sie nicht nur fliegen und schon mal zur Probe sterben, hier traf sie auf ihre Mitmenschen, wie es wirklich war und hier hatten die Orte eine Aura. Hier focht sie Kämpfe, rettete und wurde gerettet, hier durchschritt sie historische Zeiten bis hin zu Geheimgängen in Schlössern, erfand die bizarrsten und verzaubertesten Gebäude, die man sich nur denken kann. Und nur hier war sie manchmal eins mit ihrer Sehnsucht und dem Ersehnten: Einem stillen, klaren, hellen See inmitten eines Kiefernwaldes. Dieser säumte mit seinem weißen Sand das Wohnhaus, dessen Möbel über und über mit weißen Tüchern verhangen waren. Hier fand sie Frieden, wurde eins mit sich. Zur Not fand sie auch träumend ein lichtdurchflutetes Schwimmbad, denn im Grunde war es das Wasser, das diese geheimnisvolle und erneuernde Qualität hatte. Vorgestelltes Wasser an sich wirkte verjüngend. Demgegenüber vorgestelltes Licht das Herz weit machte. Hatte sie zu viel von beidem imaginiert, beherrschte sie ihre feurige Kraft nur noch mühsam, indem sie sich in erdige, deckelnde Zurückhaltung zwängte. Eigentlich war sie zu präsent, um sich dauerhaft verstecken zu können.
4.
Als Kind waren es Märchen, später das Verliebtsein, schließlich Traumbilder, welche sie zusammenfassend als inneres Licht bezeichnete: es legte sich als numinose Aura um das in sich gefangene Kind und bewahrte sie sowohl vor schlechten Einflüssen aus dem Innern und Äußeren, als auch vor einem Gefühl des Alleinseins. Bzw. vor Einsamkeit, denn wenn sie eines schon immer war, dann allein.
Es waren dies aber nicht nur als „schlimm“ empfundene Hass-oder Wutgefühle -sogleich war es ihr dann nicht mehr möglich, sich „gut“ zu fühlen- , sondern auch sozusagen lebenserhaltende Kräfte, die sorgsam zurückgedrängt wurden, deren Ausbruch, wie z.B. der eskalierten Freude, eines überschwänglichen Strahlens, drohte etwas zu zerbersten, was als einziges achtbar schien. In diesem stillen Verharren war nur Traurigkeit erlaubt. Doch führte diese allgegenwärtig schlummernde Trauer selten zu Verbindungen, sie konnte sich kaum trösten lassen, stattdessen empfand sie das Weinen an sich als Trost. Und ähnlich wie ihre Aura wirkte auch das Weinen befremdlich. Es schien so aus einer anderen Welt zu kommen, dass auch sie selbst meinte, nie ganz geboren worden zu sein. Auch sehnte sie sich ja nicht nach dem Tod, im Gegenteil, doch war es manchmal schier unerträglich einsam, wenn sie Klagegesänge anstimmte. Es musste sich wohl um eine Ur-Trauer handeln, eine Trauer um das verloren geglaubte Leben, und die damit verlorene Liebe.
Wieder waren es Gewässer, durch die sie ihr Ich erfuhr und umkämpfte: Das eine Mal surfte sie mit Hilfe bekannter Schwung gebender Hände den Fluss hinauf, das nächste Mal nahm sie Stufen bei dem Versuch, ein Boot flussaufwärts zu tragen. Es war schwer. Die Suche. Noch schwerer aber war das Finden von Leere auf ihrem Seelengrund. Dunkle Leere. Warum war es so dunkel hier?! War das das Nichts? War ihr Licht eine Täuschung gewesen? All die Jahre und Jahrzehnte? Das schien unmöglich. Und doch sagte ihr ein innerer Kompass, dass die Reise nun von neuem begann. Die Wahrheit: Das war auch Dunkelheit.
„Warum reist du nicht in die Gefilde des Geistes? Da ist mehr Licht als deine liebe Seele glauben mag.“ „Aber ist das nicht schon Geist? Die Seele?“ „Das dachtest du immer, nicht wahr?: Dass du nur genügend lieben müsstest. Aber das stimmt so nicht. Der Geist ist kühl. Doch nicht notgedrungen kalt oder hart, wie du meinst. Er ist frei und beweglich wie die Luft, die wir atmen. Doch dieser wird mehr gefürchtet, als ein tückischer See, denn ein See führt hinab zu einem Grund, jener aber konzentriert sich allenfalls in etwas wie Geometrie oder in Sternen, wenn du so willst.“ „Mit dem Verstand will ich aber nicht viel zu tun haben!“, erwiderte Magda beinah trotzig. „Hallo! Ich rede nicht vom Verstand. Nein, nein. Glaub nicht, dass du so wieder entwischen kannst. Du bist bereit. Aber du fürchtest dich davor, groß zu sein. Du spürst sehr wohl, dass der Geist mehr als das ist, was die Natur der Erde vorgaukelt, das er sei.“ Nun lächelte sie schelmisch in sich hinein. Natürlich! Wusste sie. „Aber Geister gibt es doch nicht.“ Lena schmunzelte.
Das war allerdings ein Meilenstein: Die Liebe als größte und reinste Kraft aufzugeben. Rot und Blau waren die Komplementärfarben von Leidenschaft und Verstand, war Gelb wirklich die geistig-seelische Synthese? Ja, sie hatte sich vor lauter Leidenschaft in der Liebe verirrt. Liebe ist nicht nur Gefühl. Befruchtet und geläutert vom Geist musste sie also reiner sein als Wärme oder Kälte, als sattes Rot. Denn dies ist auch Blut.
Und Blut, das waren die Krallen auf ihren blütenzarten Blättern.
5.
„Halt den Mund!“ Das zog. „Ich will Dich hier so nicht sehen. Zieh dich aus!“ Alles begehrte auf und ihr Kampftrieb wollte das unterbinden. Doch versprach es eine Geborgenheit, die sie so seit ihrer Jugend nicht mehr kannte. Es hielt sie. Er hielt sie so. So sicher. So sicher wie die Mäusenase in den Wolken, wie dass die Welt nicht unter gehen würde und dass sie hier auf dieser Erde war. Mochten auch Galaxien vergehen oder neu gefunden werden: Hier war sie sicher! Wie das gleichmäßige Vorüberrauschen der Fahrzeuge in der Nacht. Und es war die große tiefe Sehnsucht nach Meer, mehr Liebe; einer Liebe, die auch in Tod, Verletzung, absoluter Fehlbarkeit verwurzelt war. Keine Abhängigkeit, sondern Hingabe bis zum Exzess. Diese Lust, dieser Hunger verschlang sie beinah. Wie die Sehnsucht nach dem Geschmack eines Geruches: Unmöglich! Wie der Wunsch, noch einmal Baby zu sein…
Vor lauter Schmerz der vergebenen Sehnsucht schnitt sie sich den kleinen Finger ab. Und öffnete hiermit das Tor zu einer Welt, in der sie nur und ausschließlich auf ihn zu warten hatte. Ein silbernes Brückchen führte über Haine von Quittenbäumen hinunter zum roten Altar. Hier gab es keine Vögel oder andere Tiere. Es war eine Welt aus Pflanzen und toten Materialien. Eine lautlose Welt. Sie pflückte eine Quitte, zog sich schamhaft zurück, um einen genussvollen Bissen zu nehmen. Doch statt einer vollendeten Befriedigung breitete sich in ihr furchtbare Leere aus und beinah hätte sie sich an der Frucht verschluckt. „Komm!“ Da stand er hinter dem Altar und wartete nun auf sie. „Sollst du mich ansehen? Habe ich dir nicht gesagt, dass du vor mir den Blick zu senken hast?“ Sie spürte nur unsicher die Erde unter ihren Füßen. Auf dem Altar türmten sich Quitten über Quitten. Welch ein Überfluss. Und was er dann tat, verschlug ihr den Atem. Er zückte einen vergoldeten Dolch und hackte wie wild auf die Früchte ein. Zumindest kam es ihr so vor. Er schnitt ihnen sadistisch ins Fleisch, zog die Klinge hindurch, dass der Saft nur so spritzte. Über und über troff es in Rinnsalen der Wonne am roten Gestein des Schreins herab und bis zu ihren nackten unschuldigen Füßen hin.
„Was hast du denn erwartet? Eine perfekte Frucht, mit der du deinen Größenwahn stillen, deine Selbst-Angst begraben, deine große Sehnsucht nach der Ewigkeit des Augenblicks erfüllen könntest?“ Und Lena wusste wieder viel zu viel. „Äh-ja, ich glaube, so etwas in der Art muss ich wohl geglaubt haben. Aber der Augenblick vor der Erfüllung ist vorüber. Wie alles immer und immer vorüber geht. Und ich erst!“ „Wann willst du endlich aufhören mit deiner beständigen Selbstzerfleischung? Nur weil du nicht perfekt bist, bist du doch kein schlechter Mensch. Willst du eine Göttin sein?“ „Ja, das wäre ich am liebsten. Alles Leben würde an mir vorüberziehen lediglich wie Wind oder Regen, der mich nicht nass macht. Und dennoch würde ich geliebt werden. Grenzenlos.“
Bedächtig und nahezu ehrfürchtig hob er sie vom Boden wie eine Prinzessin, legte sie behutsam auf den Altar und leckte ihre Füße langsam und frivol ab. Von der Spitze der Zehen hinauf über den Spann und -oh!- zu den Knöcheln. Und dann - küsste er sie, den Saft noch auf den vollen festen Lippen auf ihren wartenden, offenen, feuchten Mund. Ah! Es breitete sich eine Wollust in ihr aus wie heilender, warmer Balsam. Sie hatte ja gar nicht geahnt, wie sehr sie das vermisst hatte von Kindesbeinen an.