Wasser (2010)
Sie schwamm durch das Becken. Schemenhaft sah sie die Silhouette eines Menschen. Sie schwamm näher heran. Traf auf eine Glasscheibe. Er berührte die Scheibe. Er wirkte wie erstickt, panisch. Alles in ihr wollte zu ihm, wollte ihn retten. Doch da war das Glas zwischen ihnen. Wer auch immer das war, dieser ältere Mann... etwas zog sie zu ihm, als kenne sie ihn, über die existenzielle Bedrohung hinaus. Sie suchte seine Hand, Hand an Hand waren sie sich nun näher als eine fremde Begegnung je hätte vermuten lassen. Und wieder und wieder tauchte sie in dieses Becken und suchte ihn, während er schon beinah bettelnd wartete...
Schweißnass waren die Laken und das Hemd. Ein Erstickungsgefühl weckte sie. Ah, nicht schon wieder! Es war bereits taghell. Ihr augenblicklich einsetzendes Zeitgefühl sagte ihr, dass es viel zu spät war. Doch ehe sie in die unguten Versagensbauchschmerzen geraten konnte, drang das plötzlich aufkommende Pfeifen des Windes draußen an ihre Ohren. Sie blickte zum offenen Fenster hin: Schnee schon? Sie rieb sich die Augen. Nein, ein Schnee aus Federn trieb in Pirouetten vorbei, tanzte Kerzen und Spiralen und Kreise. Dann hörte sie die Rufe. Sie ging zur Tür auf die Straße, blickte zum Himmel. Da waren sie. Wie lang hatte sie die nicht mehr gesehen. Waren es zwei Jahre oder mehr? Egal. Sie konnte sich nicht satt sehen. Welch ein erhabenes, erhebendes, unbeschreiblich schönes Gefühl das war! Die Gänse waren wieder da. (Oder vielmehr zogen sie weg. Aber man sah sie ja nur während ihres Zuges.) Wie Perlenketten überzogen sie den Himmel. Eine Dame in Pumps und Trenchcoat rümpfte die Nase über sie. Ach ja: sie trug ja noch ihr Nachthemd. Na, immerhin. Dennoch: Sie ging zurück ins Haus, setzte Wasser für den Kaffee auf und stellte das Radio an. Für die Schule war es zu spät. Dann ging sie lieber gar nicht hin, als sich nach ein oder zwei Stunden rechtfertigen und erklären zu müssen und gehässige Blicke auf sich zu ziehen. Beim Drehen des Radiosenders verlautete zwischen dem Krchz der Kurzwellen die Nachricht: „... Tsunami in .... Menschen umgekommen…” Dann Musik: „ ...aus Glas und Gold und Stein...Und jede Straße die hinaus führt, führt auch wieder rein. Ich bau eine Stadt für dich...“ Warum brachte ihr dieses Lied stets einen Schauer von Liebeskummer? Sie hatte doch weder die Liebe noch den Kummer. ... Aber Kummer...
Sie fühlte sich immer noch in diesem Lied wie geliebt. Und irgendwie kummervoll, ohne zu wissen, weshalb. Sehnsucht verspürte sie. Schwimmen wäre jetzt gut. Ja, warum nicht? Sie packte also alles zusammen: den rotgestreiften Badeanzug, die Gummischlappen mit den Schmetterlingen, ihr Delphinhandtuch aus Kinderzeiten. Alles in den Seesack und los. Wie einfach das manchmal war... Dabei interessierte es sie nie, ob die Sonne schien, es regnete oder stürmte. Sie trug noch das Lied mit sich und den Flug der Gänse. Als mache sie das für Augenblicke unsterblich. Und es stürmte. Nein, sie konnte und wollte nicht in das, was man die pure Realität nannte. Immer trug sie Gedanken und Gefühle in ihrem Herzen mit sich wie kleine Kinder ihr Lieblingsstofftier. Das bewahrte sie eben z.B. vor Wettereinflüssen. Oder vor dem „bösen Blick“. Oder vor Gesprächen im Bus wie: “Ich fahr gleich zu meinem Papa, etwas ausdrucken.“ „Ach, dann habt hier ja auch etwas Zeit zum Reden.“ „Ne, ich kann meinen Papa nicht leiden.“ „Ich meinen auch nicht.“ Als spürten sie ihre Bestürzung: „Ja, ist eben so.“ Sie würde um die Liebe zu ihrem Vater kämpfen. Immer. Und könnte sie ihn nicht leiden, würde sie sein Wesen so lange wie Wasser durchdringen, bis Sympathie in ihr aufglomm. Sie spürte die allgemeine freundliche Rücksichtnahme, die heute im Bus herrschte. Sie hätte ausfließen können vor Anteilnahme, aber eine kontrollierende Vorsicht hielt sie leise zurück.
Sie legte sich auf das Wasser, sah in den herbstlich blassen Himmel, nahm mit beiden Armen ab und an einen Zug und trieb so durch das Becken. Das liebte sie, nichts machte sie so friedlich. War da Musik unter dem Wasser? Sie hörte in der Ferne klassische Klänge, das Ziehen einer Violine, das etwas verschluckte Gleiten auf Klaviertasten. In Gedanken bildeten sich dazu Obertöne in ihr. Alles in ihr wurde weich und rein.
Und sie träumte: War nicht der Erdball ohnehin zu ca.70% mit Wasser bedeckt? Die Ozeane schienen unermesslich in ihrer Weite und Tiefe zu sein. Nach zehntausenden von Jahren haben wir wissbegierige, neugierige und stets suchende und forschende Spezies Mensch gerade erst ein Minimum der flirrenden Welt der Meere entdeckt. Wie soll man das begreifen? Niemals! Es ist manchmal schaurig: man muss nur an Tiefseekämpfe von Walen und Riesenkraken denken, in der dichten Lautlosigkeit des Wasserdrucks, der die meisten Wesen dieser Erde unbemerkt wie ein Körnchen im Kellerregal zu Tode brächte. Man fühlt sich wie in die eigenen überbordenden todesnahen Seelengründe gezogen, wenn dort, wo kein Licht mehr hinzudringen vermag, leuchtende sternpollenförmige Dinger leben und Methan aus der Erde dringt...
Auf dem Rückweg im Supermarkt hielt sie eine Dose Thunfisch in der Hand, als gehörte dies einer anderen Art Mensch an oder entstamme einem fremden Planeten. Aber sie hatte Hunger. Sie war nicht umrauscht vom Dröhnen des Universums und auch in der Dose Fisch war vermutlich keines. Vielleicht machte sie sich noch Gedanken über humane (oder animalische, obgleich doch Anima die Seele ist) Fangmethoden oder über bedenkliche Zusatzstoffe. Das war´s. Sie war eben nur ein Mensch. Das war eben so. Gern hätte sie ein Surfbrett, um in alle Winkel des Möglichen und Fassbaren zu gelangen und es einzufangen, mit einer kraftvollen Leichtigkeit eben wie von Wasser getragen. Wenigstens ab und zu. Die Flussläufe hinauf bis zu den Quellen wie die Lachse, oder sich in Bächen in hellster und kühlendster Frische treiben lassen. Ja, und manchmal auch nur im nahen See wie der gemütliche und etwas plumpe Karpfen kurz mit einem Blub an die Wasseroberfläche kommen und wider abtauchen in den trüben Schlummer...
Und manchmal auch, vielleicht sogar am allerliebsten, an einem sonnigen ruhigen Sonntag im Klappstuhl am, nicht im, See sitzen, das innere Surfbrett ziehen lassen wie die Wolken am Himmel und die Unterwasserwelt das sein lassen, was sie ist: nicht ihre Welt. Und dann mochte die Ruhe, die das Wasser oberflächlich ausstrahlt, ihr Seelenheil sein für diesen einen Tag, und der Fisch, den sie angelte das einzige, was ihr aus dem Wasser klar in Händen wäre.
Da hing ein Aushang im Supermarkt: Ein Bild mit Mutter und Kind, die ins Sonnenlicht gehen und dazu der Text: „Na? Sind Sie wach? Haben Sie Freude, mit Kindern umzugehen? Wünschen Sie sich neue Erfahrungen? Und das gegen eine Entlohnung? Dann melden Sie sich doch einfach. Sie sind willkommen!“
Das Träumen fing wieder an. Wie gern hätte sie ein Kind gehabt! Sie wusste von irgendwoher, dass die Empfindungen einer Schwangerschaft und ein Neugeborenes in den Armen zu halte, unersetzlich waren. Vielleicht könnte sie ja gut mit Kindern umgehen. Sie träumte von Äpfeln: dem Pflücken von Äpfeln mit Kindern, dem Duft von getrockneten Äpfeln, die über und über in der Wohnung hängen würden, einem Apfelbaum, der senkrecht durch´s Haus wüchse, dass er gewissermaßen das ganze Haus und seine Bewohner trug, sie könnten die saftigen Früchte aufschneiden und mit knallenden Farben damit drucken, Apfelkuchen backen... Sehr verlockend. Sie beschloss, dort anzurufen, riss die Telefonnummer von dem Papier und kaufte kurzerhand fünf Kilo Äpfel.
Das war die Gelegenheit: zu Hause drängten sich die Dinge mit ihren Erinnerungen dicht an dicht, die bunten asiatischen Sarongtücher, die sie vor Urzeiten aufgehängt hatte, verwoben sich allmählich damit. Die alten Möbel strahlten eine unheimliche Dunkelheit aus. Sie begann sofort mit der Arbeit, gerade angekommen. Sie packte ihre Sachen in Kisten, als habe sie vor, auszuziehen, packte auch Kleidung in Säcke und schaffte alles in den Keller. Dann strich sie die Wohnung weiß, hängte nur ein einziges Bild von einem Stern in roten Super- Nova- Nebeln an die Wand im Wohnzimmer. Im Schlafzimmer lag nur noch eine Matratze und eine Pflanze begrünte den Raum, sorgte für saubere Luft. Drei Tage hatte sie damit zu tun. Dann war sie fertig. Geschafft. Und jetzt? Sie biss in einen Apfel. Es war das erste, das sie wieder zu sich nahm, seit die Gänse über das Haus geflogen waren. Es schellte.
Durch die Milchglasscheibe der Wohnungstür machte sie die Silhouette eines großgewachsenen Mannes aus. Wer mochte das sein? Ohne, dass sie hätte sagen können, weshalb, wurden ihre Knie weich und ihr Herz klopfte so laut, dass sie meinte, Schritte auf der Treppe zu hören. „Wer ist da?“ fragte sie durch die Tür, die Wange an den kühlenden Rahmen gelehnt und die flache Hand an der Scheibe. „Ich bin es.“ Ihr Vater? Sie war gerade fünf als er die Familie verlassen hatte und seither hatte sie ihn nie mehr gesehen. Sie öffnete die Tür langsam. Und sah in einem gealterten Gesicht ihre eigenen Augen. „Ich wollte nach Dir sehen. Ich hatte das Gefühl, du bräuchtest jemanden.“ Sie nickte langsam. „Aber ich kenne auch die Lösung, denn du bist wie ich: Alles, was du brauchst, sind die Wasser, die in dir fließen.“ Immer noch standen sie so zwischen Tür und Angel. Sie war zu erstarrt vor unheimlicher Spannung. „Nun, da ich dir dein Geheimnis anvertraut habe, lässt du mich trotzdem rein?“ Schüchtern erwiderte sie: „Ja, natürlich...“ Und im Radio lief wieder: „Ich bau eine Stadt für dich...“
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